Gründe zu fotografieren

Warum fotografiert wird

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Das Studium von Literatur zur Theorie der Fotografie förderte sehr interessante Gründe zu Tage, warum sie betrieben wird. Interessant sind sie, weil sie von einem offensichtlichen Grund verdeckt werden. Fotografen sind in den meisten Fällen Menschen und damit unterliegen sie den menschlichen Schwächen. Die Unmöglichkeit der vollständigen Selbsterkenntnis (Spinoza) ist nur eine Schwäche, wenn man sie ignoriert oder sich der eigenen Blindheit nicht bewusst ist. Vielleicht findet der ein oder andere Leser einen ganz neuen Zugang zu seiner fotografischen Motivation durch die Lektüre dieses Artikels.

Roland Barthes präsentierte in seinem Werk Die helle Kammer einen sehr ungewöhnlichen Grund für Familienalben: die (unbewusste) Konfrontation mit dem (eigenen) Tod. In dem wir die Verwandten, unsere Kinder und uns selbst in einem Album vereinen, versuchen wir Erinnerungen zu persistieren. Wenn die Großeltern gestorben sind, kann man das Album wieder öffnen und einen Blick in die Vergangenheit werfen. Die Aufnahmen von einem selbst oder den Kindern – der Fotograf ist ja indirekt an die Fotografie gebunden (Bildunterschrift, Geschichte dazu)) – zeigen, dass man sich seines eigenen Ablebens bewusst ist und eine in der Zukunft notwendige Erinnerung in der Gegenwart erzeugt.

Susan Sontag brachte eine Menge unbewusster Gründe hervor, von denen ich nur zwei herausgreifen möchte. Der erste ist eine oft gesehene und ebenso oft verurteilte Form der Fotografie: Urlaubsbilder. Nach Sontags Lesart »[fühlen sich] die meisten Touristen […] genötigt, die Kamera zwischen sich und alles Ungewöhnliche zu schieben…« Es ist ein Ritual, es schafft Sicherheit, es erinnert auch an die Heimat, weil man dorthin zurückkehrt und so nie ganz Teil des Urlaubsortes wird. Damit verbunden ist der zweite Grund, Geschehnisse nicht an ihrem Fortgang zu hindern. Sie nennt den Kriegsfotografen und den Journalisten als Beispiel. Durch die Distanzierung vermittels der fotografischen Apparatur mischt sich der Fotograf nicht in die Geschehnisse ein, duldet sie. »Das Fotografieren ist seinem Wesen nach ein Akt der Nicht-Einmischung. …wenn ein Fotograf, der sich vor die Alternative gestellt sieht, eine Aufnahme zu machen oder sich für das Leben eines anderen einzusetzen, die Aufnahme vorzieht.« Neben anderen hat Kevin Carter eine ziemlich drastische Konsequenz aus seiner Nicht-Einmischung gezogen. Wenige Monate nach der Veröffentlichung des Bildes in der New York Times nahm er sich das Leben. Kritiker schrieben sinngemäß, dass jemand, der so sorgfältig die Apparatur einstellt, statt zu helfen, ein weiterer Jäger/ Aasgeier ist, auf der Jagd nach der Sensation. (Carter selbst sagte, 30min gewartet zu haben, so dass der Geier vielleicht seine Flügel spreizt.)

Den vorletzten Grund bringt Diane Arbus vor: »Das Fotografieren war für mich ein Freibrief, überallhin zu gehen, wohin ich wollte und alles zu tun, was ich wollte.« Die Kamera wird zur Eintrittskarte und man kann auch tabuisierte Orte wie ein Bordell oder ein Behindertenheim betreten. Es ließe sich auch wieder die Kamera als Trennschicht zwischen der eigenen Welt und dem Ungewöhnlichen sehen, aber man betritt erst wegen der Kamera den sonderbaren Ort. Dann bezieht man sich auch immer auf die Kamera und wird als Fotograf wahrgenommen. Man wird selbst zum Kuriosum aus Sicht derer, die am ungewöhnlichen Ort gewöhnlich sind.

Der letzte Grund ist schon sehr alt und wurde in der Neuzeit öfter strapaziert. Eine erste Quelle scheint Wendell Holmes zu sein: »Wir häuten jetzt unsere Freunde und benutzen dazu den Sonnenstrahl…« Er bezieht sich damit auf die Ablösung einer dünnen Schicht durch die fotografische Apparatur. Einmal verändert der Einsatz derselben das Wesen des Fotografierten tatsächlich (weil der sich steif oder unnatürlich verhält, posiert oder auf Kommando natürlich sein soll), andererseits erhält man einen (besitzbaren) Film. Man könnte auch vom wörtlichen Abzug sprechen. Wer etwas oder jemanden fotografiert, möchte davon eine infinitesimal dünne Schicht besitzen. Ob das nun nackte Körper, Gebäude, (Luxus-) Gegenstände oder (vergängliche) Blüten sind, die Speicherung bedingt eine In-Besitz-Nahme.

    bibliography
  1. Die helle Kammer, Roland Barthes, Suhrkamp, 1989
  2. Über Fotografie, Susan Sontag, Fischer Taschenbuch Verlag, 19. Auflage, 2010
  3. Diane Arbus: An Aperture Monograph, Doon Arbus und Marvin Israel, Aperture, 40. Auflage, 2012
  4. Bilder der Photographie – Ein Album photographischer Metaphern, Bernd Stiegler, edition suhrkamp, 2006